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Kontrollieren mich die Tatsachen?*

Mittwoch, 30. März 2016 / 12:20 Uhr
aktualisiert: 14:43 Uhr

Wer sich als Leseratte (wie heisst eigentlich das elektronische Pendant?) durch die Höhen und Tiefen aktueller politischer Publikationen durchnagt, der wird bei soviel Kapitalismuskritik (die ich schon 2007 mit der «Welt als Zahl» auf den Punkt gebracht habe) wirklich übel. Doch Freude herrscht: Es geht nämlich auch anders.

William Gibson: Verfasser der «Bibel» der Akzelerationisten.

Sarah Wagenknecht schreibt brillant über die Entfremdeten, plädiert (diskussionswürdig) für staatliche Souveränität und wird vom konservativen Peter Gauweiler (alt-Abgeordneter der CSU) in der Süddeutschen Zeitung besprochen. Norbert Blüm macht auf Stéphane Hessel und schreibt mit «Aufschrei! Wider die erbarmungslose Geldgesellschaft. Ein Pamphlet» ein wildes Buch und Rundumschlag - äusserst sympathisch engagiert und unbedingt der Gerechtigkeit und Menschlichkeit verpflichtet. Brendan Simms und Benjamin Zeeb entwerfen eine Europakritik, die meinen Leserinnen und Lesern durchaus bekannt ist und auch theoretisch fundiert wird. Ihr Fazit: Die Kreation des Bundes: «Vereinigten Staaten von Europa.» Europa soll aus der EU wie Phoenix aus der Asche emporsteigen - hatten wir dies nicht schon nach dem 2. Weltkrieg? Jede schweizerische Historikerin hätte die wichtigen Überlegungen von Simms und Zeeb durchaus präziser formulieren können, doch die sehr deutsche und britische Perspektive des Essays «Europa am Abgrund» behindert die entscheidenden Lösungen, die sich paradoxerweise gleichzeitig aus der Kritik und der Utopie ergeben könnten.

Der Europa-Horror inklusive globaler Kapital-Vampirismus sind also bekannt. Ebenso bekannt ist, dass die Voraussetzungen, auf diesem Blutboden eine Zukunft zu schaffen, die diesen Namen verdient, gelinde gesagt, beschissen sind.

Doch es gibt sie trotzdem: Die Zukunft. Und zwar bei den Akzelerationistinnen und Akzelerationisten. Menschen, deren «Bibel» durchaus im «Neuromancer» von William Gibson steckt. Eine Zukunft der Möglichkeiten statt der verdammten, live-fetischisierten Gegenwart. Armen Avanessian ist Philosoph in Berlin und hat mehrere anregende Schriften zur Öffnung von neuen Vorstellung für die Zukunft verfasst. Er ist auch Mitverfasser des akzelerationistischen Manifests. Bisher besteht die Zukunft noch in viel Spekulation, doch die Methode, wie man Zukunft wieder vorstellen kann, ist grossartig und verändert die eingefahrene Kritik-Kapitalismus-Denkschiene.

In meinem Denkkalender schreibe ich zum Auftakt: «Dinge sind verzauberte Menschen. Es ist nicht wirklich ratsam, das Verhältnis umzukehren.» Nachdem ich Armen Avanessian gelesen habe, bin ich einen Schritt weiter: Dinge sind verzauberte Menschen und Menschen sind verzauberte Dinge. Höchste Zeit, diesen Kommunikationsraum zu öffnen. Oder in Anlehnung an Peter Fischli und David Weiss formuliert: «Wie mache ich den Bereich des Möglichen endlich wieder mal grösser?» Armen Avanessian hat darauf nicht alle Antworten - glücklicherweise für uns Denkende überall - doch wunderbar inspirierende Anregungen, die Welt nicht nur neu zu denken, sondern auch aktiv zu gestalten.

* Peter Fischli und David Weiss in ihrem zauberhaften: «Findet mich das Glück?»

(Regula Stämpfli/news.ch)


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