Buchbesprechung: Die Geschändeten schlagen zurück Donnerstag, 17. Februar 2000 / 15:08 Uhr
Zürich - Hansjörg Schertenleibs neuer Roman «Die Namenlosen»
erzählt spannend und raffiniert die Geschichte einer Frau, die für
ihren Sektenführer fast bis zum Äussersten geht.
Buchbesprechung von Irene Widmer
Jürg Schertenleibs Buch "Die Namenlosen" beginnt mit klebriger Rührseligkeit: Die
40jährige Christa Notter schildert der Tochter, die sie vor 24
Jahren zur Adoption freigegeben hat, ihre Lebensgeschichte. Das
trieft zunächst vor Trivialpathos: «Sehen wir uns ähnlich?», «Bist
Du glücklich?», «Bitte verzeih' mir», «Bitte richte nicht über
mich». Das ist der Stoff, aus dem die Simmels sind.
Doch bald schon tauchen erste, unerhörte Lockspuren auf: Die
Frau erwartet, während sie schreibt, ihren Mörder. Sie selber hat
jemanden umgebracht und war an sieben weiteren Tötungen beteiligt.
Der Papst freilich ist wider Erwarten nicht umgebracht worden.
Retardation und Perspektivenwechsel
So zieht es denn Leser und Leserin trotz des drögen Anfangs in
den Text hinein. Und mit wohldosierter Enthüllungsstrategie und
einer dreistimmigen Komposition hält Schertenleib sein Publikum bei
der Stange.
Die älteste Schicht der Erzählung ist Christas etwa zwei Monate
umfassendes, mit Reminiszenzen an die Kindheit gespicktes Tagebuch.
Die Einträge hat sie nachträglich, im Versteck in einem irischen
Cottage, für die Tochter kommentiert. Nach einiger Zeit tauchen als
dritte Textsorte Notizen des letzten Geliebten Christas auf, der
gewisse Ereignisse aus seiner Sicht schildert.
Gesellenstück: Mord
Die Frau, so zeigt sich, war Mitglied einer antikatholischen
Sekte, die mit beispielloser Brutalität gegen Kirche und Kleriker
vorgeht. Die kleine Gruppe wird von einem charismatischen Führer
namens Fisnish angeführt, der die Mitglieder grausamen Tests und
Prozeduren unterzieht: Fasten, Gebet, Armut und Eremitentum sind
noch die harmlosesten.
Fisnish hat die «Namenlosen» unter Menschen rekrutiert, die als
Kinder von Angehörigen der Kirche misshandelt und missbraucht
wurden. Und so hat denn jeder als Gesellenstück seinen einstigen
Peiniger umzubringen. Das Nahziel aber ist der Tod des Papstes -und
ausgerechnet Christa ist auserwählt, diesen herbeizuführen.
Erst hier schreckt sie zurück. Denn in den Wochen vor dem
Kamikaze-Unternehmen hat sie einen Feuerschlucker lieben gelernt,
der ihre eingekapselten Gefühle befreit und den Willen zum
Widerstand geweckt hat.
Familien-, Liebes- und Kriminalgeschichte
«Die Namenlosen» ist nicht nur vom Aufbau her gelungen. Wie
Schertenleib in einem Zeitrahmen von nur zwei Monaten eine
Familienanamnese, eine Liebesgeschichte und einen Terroristen-
Thriller unterbringt, das ist schon bemerkenswert. Auch wie er die
Terminologie der Setzer und Drucker - Berufe Christas und ihres
Vaters - als Metaphern verwendet, überrascht.
Allein die Figur der Christa ist psychologisch nicht immer ganz
glaubhaft. Eine bigotte Mutter, ein hyperkorrekter Vater, ein
priesterlicher Schänder und ein Vikar als Schwängerer vermögen den
Anschluss an eine Mördersekte nicht zu erklären. Auch die «Heilung»
durch die Liebe des Feuerschluckers kommt etwas gar wundersam
schnell.
Was fast mehr berührt als das Einzelschicksal der Protagonistin
ist die Masse der Kindsmissbrauchs-Geschichten, die den
Mitverschwörern widerfahren sind. Schertenleib dämonisiert die
Schänder nicht einfach, sondern lässt immer das Grundproblem
durchscheinen: dass das Zölibat ein unmenschliches Gebot ist und
das Risiko von Triebverbrechen genuin in sich trägt.
-Hansjörg Schertenleib, «Die Namenlosen», Kiepenheuer&Witsch
2000, 317 Seiten.
(sda)
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