Der Abstimmungssonntag vom kommenden 28. Februar könnte als historisches Datum in die Geschichte der Schweiz eingehen, könnte wie die Schwarzenbach-Initiative (1970), die Abstimmung zum EWR-Beitritt (1992) oder die zur Minarett-Initiative (2009) kommenden Generationen als Zeitanker dienen, an denen sie sich und ihr Verständnis von Politik messen werden.
Was wird man über uns sagen, zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre nach heute?
Vielleicht, dass man den Zorn des Volkes so sehr fürchtete, dass man so sehr Angst davor hatte, extremistische Positionen an der Urne legitimiert zu bekommen, dass man davor zurückschrak, das Kind beim Namen zu nennen.
Man hatte beispielsweise Angst davor, die Befürworter einer rückständigen, realitätsfremden und diskriminierenden Definition von Lebensgemeinschaft als das zu bezeichnen, was sie sind: Rückständig, realitätsfremd und diskriminierend nämlich. Auch in meiner Twitter-Timeline wird intensiv befürchtet, dass gerade solche Unterstellungen die Leute dazu bringen würde, «aus Trotz» ein Ja in die Urne zu legen. Aus Rücksicht vor den Gefühlen von Leuten, die keine Probleme damit haben, anderer Leute Gefühle zu verletzen, soll man deshalb vermeiden, diese Leute als «rückständig» oder «hinterwäldlerisch» zu bezeichnen, weil es sonst sein könnte, dass sich die grundsätzliche Sympathie, die sie der sogenannten Heiratsstrafen-Initiative entgegenbringen - ohne aber generell gegen Homosexuelle zu sein, es geht hier ja schliesslich nur ums Prinzip, persönlich verkehre man zwar nicht mit Homosexuellen, nein, aber im Haus lebe auch ein lesbisches Paar, denen ihre Weihnachtsguetsli seien jeweils fein, wobei man sich immer frage, wer die jetzt gebacken habe, die Frau, die sich ein bisschen mehr wie ein Mann aufführt oder die andere - dass sich also die eher lauwarme Sympathie gegenüber einem rückständigen, realitätsfremden und diskriminierenden Begehren plötzlich in eine glühende Überzeugung und einem entsprechenden Vermerk auf dem Abstimmungszettel verwandeln könnte: Davor hat man Angst, weshalb man mit den Befürwortern der Initiative doch bitte respektvoll umgehen und Bezeichnungen wie oben gefälligst vermeiden solle. Die Argumente sollen doch stattdessen Richtung Steuerausfälle gehen (als ob dieses Argument schon irgendwann irgendeine Abstimmung beeinflusst hätte) oder in Richtung Solidarität (ein Wort, mit dem man in der Schweiz traditionsgemäss jede Abstimmung gewinnt).
Noch viel mehr Angst vor dem Volkszorn stelle ich bei der Durchsetzungsinitiative fest. Nicht die Tatsache, dass zahlreiche SVP-Politiker aufgrund ihrer früheren Verfehlungen ausgeschafft werden müssten, wären sie Secondos und käme die Durchsetzungsinitiative an der Urne durch, war das grosse Thema in den Medien. Nicht, dass sich das brave Wahlvieh (damit müssen die weissen Schäfchen auf den Plakaten gemeint sein, die ohne ihren grossen Führer kopflos in den Abgrund stürzen) in den Kommentarspalten und Leserbriefen in einer Weise artikuliert, dass es einem vor der Vorstellung graust, diese Personen könnten im Nachbarhaus wohnen und bei der kleinsten Gelegenheit, aus einer Laune heraus oder weil man «ein Zeichen setzen will» oder wegen einer «grundsätzlichen Sympathie für das Anliegen, nicht weil wir Rassisten sind» plötzlich fordern, dass die Augenfarbe, die man hat, oder die Nasenlänge oder die Art zu leben nicht mehr «schweizerisch» sei und man deshalb das Recht auf Fairness und Verhältnismässigkeit in rechtlichen Fragen verlieren solle. Nein, das grosse Thema war, dass sich jemand erdreistete, das Schweizer- wie ein Hakenkreuz aussehen zu lassen und selbstverständlich war diese Form sowie die Frage, ob ein Parteipräsident so ein Bild verbreiten dürfe, Schwerpunkt jeder Debatte. Dass der Inhalt des Bildes weder kommentiert noch diskutiert wurde, spricht für sich. Auch hier hat man Angst davor, Klartext zu reden. Man hat Angst davor, die Biedermänner und Befürworter der SVP-Initiative in die rechte Brandstifter-Ecke zu stellen, aus der heraus sie - offenbar aus heiterem Himmel - Sympathien für ein radikal rechtes Anliegen entwickeln sollen.
Man hat Angst davor, dass diese Sympathisanten plötzlich zu Hardcore-Nazis werden, nur weil sie als Nazis bezeichnet werden. Das ist so absurd wie zeitgeistig, man will ja tunlichst nirgends anecken. Denn egal, wie oft man mich als Nazi beschimpfen würde, ich würde deshalb noch lange nicht rechtsradikale Vorlagen unterstützen. Falls das bei jemandem anders funktioniert, wäre ich froh, wenn man mir diese Personen melden würde, damit ich sie bis zu meinem Lebensende als Feministen, Humanisten und Gutmenschen beschimpfen kann.
Natürlich sind nicht alle Befürworter der SVP-Initiative zwingend Nazionalsozialisten. Genauso wenig, wie alle Befürworter der CVP-Initiative Schwulenhasser sind. Wenn man aber mit einer Initiative liebäugelt, welche die Diskriminierung homosexueller Menschen in der Verfassung festschreiben will, dann solidarisiert man sich eben mit den Schwulenhassern. Und wenn man in Erwägung zieht, eine Initiative anzunehmen, welche zentrale Prinzipien unseres Rechtsstaates aushebeln und durch Willkür und Zweiklassen-Justiz ersetzen will, dann sitzt man mit den Faschisten im gleichen Boot und muss sich deshalb gefallen lassen, mit diesen verwechselt zu werden.
Wer noch unschlüssig ist, dem empfehle ich die Sicht über die eigene zeitliche Nasenspitze: Was wird man in 50 Jahren über uns sagen? Wird es Konsens sein, zu denken, die Schweiz habe da gerade noch einmal die Kurve gekriegt, habe im letzten Augenblick das Ruder herumgerissen und eine Katastrophe verhindert? Was wird man über Sie sagen? Werden Sie einer von denen gewesen sein, welche die «Herrliberger Rassengesetze» befürwortet haben? Einer von denen, die sich dagegen gewehrt haben? Oder etwa einer von denen, die tatenlos daneben gestanden haben, die nicht einmal das bisschen Mitwirkungsrecht, das sie gehabt hätten, dafür verwendet haben, ein Übel abzuwenden?
Wie auch immer das Ergebnis am 28. Februar aussehen wird: Es könnte durchaus sein, dass Ihre Stimme diesmal zum Zünglein wird, das einen historischen Entscheid herbeiführt.
Im Guten wie im Schlechten.