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Euro-Vision

Freitag, 25. Mai 2012 / 11:56 Uhr
aktualisiert: 13:22 Uhr

Die schadenfreudigen Kommentare in den Foren über den scheinbar anstehenden Niedergang der EU blenden aus, was dieses «gescheiterte Projekt» tatsächlich gebracht hat und wie es gewandelt und gerettet werden könnte.

Friede ist nicht selbstverständlich. Auch nicht in Europa. (Deutsche Kriegsgefangene in Cherbourg)

Wer etwas hat, schätzt es nur selten. Vor allem wenn man es von Geburt an geniesst. Nehmen wir nur solche «Banalitäten» wie fliessendes Wasser oder Strom. Wir haben es, wir nutzen es, wir geniessen es. Wir merken erst, wenn es mal weg ist, was wir davon haben.

Ein Stromausfall lähmt nicht nur Industrie und Gewerbe, auch das Privatleben kommt zum erliegen. Kochen? Fehlanzeige. Nahrung Konservieren? Hoffentlich kommt der Strom wieder, bevor alles im Tiefkühler aufgetaut ist. Heizung? Steht still. Doch solange er da ist, der Strom, bemerken wir ihn nicht einmal wirklich, was er alles macht.

Doch nicht nur an solche Petitessen (obwohl: Wärme, Licht, Nahrung und Hygiene sind effektiv verdammt wichtig) gewöhnen wir uns unglaublich schnell, sondern auch an fundamentale Bestandteile unseres Lebens wie die Meinungsfreiheit oder Frieden.

Europa geniesst, ohne es richtig zu bemerken, seit Jahrzehnten Frieden und die Schweiz gehört mit zu den Profiteuren dieser Abwesenheit von Krieg, Mord und Totschlag. In der Schweiz wird zudem noch vielfach vergessen - oder eher verdrängt - dass die Verschonung durch den Zweiten Weltkrieg und der damit einher gehende Wohlstandsbonus, vor allem auf eine glückliche Topographie zurück zu führen ist.

Dass die damals neutralen Länder Holland und Belgien von den Deutschen überrannt und okkupiert wurden, liegt nicht daran, dass die Deutschen eine solche Angst vor den tapferen Eidgenossen gehabt hätten, sondern an der für eine Panzerarmee wesentlich günstigeren Topographie jener Länder. Doch zurück zum Frieden.

Die EU, welche aus Montan Union und EWG entstand, war ein Friedensprojekt, das heisst, kein Projekt, dass aus dem Frieden entstanden wäre sondern ein Projekt mit dem der Friede gesichert werden sollte - und wurde. Die Idee dahinter ist simpel: Moderne Kriege sind meistens Kriege um Ressourcen und Marktmacht. Sicher, Ideologien, Religionen, Rassismus und solche Dinge werden gerne vorgeschoben. Am Schluss geht es (wie ja der damalige Drang der Deutschen nach «Lebensraum» im Osten demonstriert), um mehr Ressourcen für die Nation, das Volk.

Indem der Handel freier gemacht wurde, sollten diese Bedürfnisse erfüllt werden, ohne dass dazu noch jemand Waffen in die Hand nehmen sollte. Und das verblüffende: Es klappte. Und wie viele Male, wenn etwas klappt, wurde befunden, dass mehr vom Selben denn auch noch besser wäre.

Doch was dabei vergessen wurde war es, nicht nur die Wirtschaft und Politik zu vereinigen, sondern auch effektiv die Völker. Denn wie man es dreht und wendet: Es sind immer noch die Deutschen, die Franzosen... die Griechen! Und man sieht sich immer noch als Konkurrenz in Lagern mit unterschiedlichen, in sich homogenen, nach aussen unvereinbaren kulturellen Identitäten.

Dabei ist die «Nationale Identität» genau so künstlich wie die «europäische Idee». Ein Bayer und ein Salzburger haben garantiert mehr gemeinsam als der Bayer und der Nordfriese. Vorarlberger und St. Galler verständigen sich problemloser als Kärntner und Vorarlberger. Solche Beispiele gibt es in ganz Europa und sie sind bei weitem nicht nur in der Sprache sondern ebenso sehr im historischen Hintergrund begründet.

Die stark auf Nationalinteressen ausgerichtete EU ist eine Fehlkonstruktion - aber vermutlich die logische Folge einer Serie von Entwicklungen und Grundvoraussetzungen. Aber es ist immerhin eine Fehlkonstruktion, die bisher die Selbstverständlichkeit Frieden in Europa gesichert hat.

Wenn sie trotz all der gegenwärtigen Probleme die momentane Krise übersteht, muss aber ein Neuanfang ins Auge gefasst werden - die Dekonstruktion der Nationen zugunsten eines Europas der Regionen. Dies tönt zugegebenermassen verrückt. Doch wem Frieden lieb ist, sollte bedenken, dass die Nationen, an die wir uns dermassen gewöhnt haben, vor allem für einen Zweck existieren: Zuerst (in der Feudalzeit) um die Mächtigen reicher zu machen, und danach, um besser Krieg führen zu können. Ob diese Konstrukte für die heutigen Aufgaben noch tauglich sind, darf ernsthaft hinterfragt werden.

Bleibt die Frage, ob ein Europa, zusammengesetzt aus 50 oder gar 100 Regionen, sich noch regieren, es noch handeln könnte. Doch seien wir realistisch: Es braucht eine neue, eine echte Euro-Vision, denn die Nationalidee hat irgendwie abgewirtschaftet. (Patrik Etschmayer/news.ch)