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Familientötung: Haben die Medien Mitschuld?

Freitag, 24. September 2010 / 16:04 Uhr
aktualisiert: 4. Januar 2011 / 19:32 Uhr

Die kurz aufeinander folgenden Familientötungen in Lörrach und im benachbarten Riehen werfen Fragen auf. Es kommt zu Schuldzuweisungen.

Nichts deutete in Riehen auf ein Familiendrama hin.

Der Fall Lörrach ist ungewöhnlich: Es handelt sich beim Täter um eine Frau, eine Anwältin, die ihre Familie auslöschte, Amok lief und einen Unbeteiligten anschoss.

Zwei Tage folgt eine ebenso aussergewöhnliche und erschütternde Bluttat in Riehen. Ein relativ gut situierter Manager bringt Tochter, Ehefrau und sich selbst mit einer zivilen Waffe um. Die Familienverhältnisse scheinen stabil. Nichts deutete in dem Haus im Grünen auf ein Familiendrama hin. Höchstens berufliche Sorgen werden vermutet. Bei der Amok-Täterin in Lörrach könnte eine Fehlgeburt den Auschlag für die Wahnsinnstat gegeben haben.

Beklemmende Fragen

Die beiden Täter stammten nicht aus Randständigen-Milieus sondern gehören zur Elite der Gesellschaft. Weshalb besitzen solche Leute eine Waffe? Weshalb rasten sie aus? Löste vielleicht die Berichterstattung über den Amoklauf in Lörrach die Bluttat in Riehen aus, im Sinne eines Nachahmeffekts?

Experten sprechen von einem erweiterten Suizid, wenn ein Täter seine Angehörigen und sich selbst in den Tod reisst.

«Ein Suizid ist häufig ein psychischer Unfall», erklärt Suizid-Forscher Vladeta Ajdacic-Gross von der Universität Zürich. Die Menschen verlieren dabei die Kontrolle. Dies kann auch für den «erweiterten Suizid» zutreffen.

Debatte um Werther-Effekt

Es sei wahrscheinlich kein Zufall, dass sich der Fall Riehen fast unmittelbar nach der Tragödie in Lörrach ereignet habe, sagte Andreas Frei, Experte für forensische Psychiatrie. «Aus der Suizid-Forschung ist bekannt, dass bei einem Selbstmord die Gefahr der Nachahmung sehr gross ist.»

Frei spricht hier den sogenannten Werther-Effekt an: Goethes «Die Leiden des jungen Werther» löste Ende des 18. Jahrhunderts eine eigentliche Selbstmordrate aus.

Ob eine gewisse Art der Medienberichterstattung Suizide oder gar Bluttaten wie in Lörrach oder Riehen begünstigen können, also den Werther-Effekt auslösen, ist unter Experten umstritten.

Keine Bilder von Waffen

Ajdacic-Gross glaubt, dass ein solcher Effekt möglich sei. Er empfiehlt daher den Medien, bei Suiziden jeder Art möglichst keine attraktiven Bilder oder Waffen zu verwenden.

Eine in der Fachzeitschrift «Publizistik» dieses Jahres erschienene Studie von Alice Ruddigkeit kommt andererseits zum Schluss, dass in Bezug auf den Werther-Effekt eine Universal-These nicht haltbar ist und es je nach Suizid-Typ auch einen umgekehrten Werther-Effekt geben kann.

Verfügbarkeit der Waffe als Faktor

Ein möglicherweise gewichtigerer Faktor ist die Verfügbarkeit einer Waffe. Eine Waffe ermöglicht es, den Handlungsimpuls schnell umzusetzen, sagt Ajdacic-Gross.

Kurzschlusssuizide nach Schicksalsschlägen und akuten Krisen sind besonders stark von der unmittelbaren Verfügbarkeit eines schnellen und tödlichen Mittels wie eben einer Schusswaffe abhängig, so Ajdacic-Gross. Dies trifft auch auf die Täter in Lörrach und Riehen zu.

Rund 90 Prozent der Familientötungen würden mit Schusswaffen verübt, sagt Ajdacic-Gross. Psychiater Andreas Frei von den Forensische Diensten in Luzern untersuchte die 74 Fälle in der Schweiz, die sich zwischen 1993 und 2006 ereignet haben. Er kommt auf einen Anteil von 80 Prozent Schusswaffen bei Familientötungen. Eine Tatsache, die zu denken geben sollte.

(Harald Tappeiner/news.ch)


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