ETSCHMAYER
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Von dem, was 'normal' ist

Montag, 11. April 2011 / 10:49 Uhr
aktualisiert: 21:51 Uhr

Empfindlichen Naturen empfiehlt der Autor, den nächsten Abschnitt auszulassen. Es ist ein Zitat aus einem während des zweiten Weltkriegs heimlich abgehörten Gesprächs von zwei Wehrmachtsoldaten in alliierter Kriegsgefangenschaft, in der einer der Gefangenen Namens Bruns über eine Massenerschiessung von Frauen und Kindern berichtet.

Normalität - verschoben: Von der Wehrmacht erschossene Zivilisten (auf Kreta)

«...hier war der Waldrand, hier drin waren die drei Gruben an dem Sonntag, und hier war noch eine anderthalb Kilometer lange Schlange, und die rückte schrittchenweise. Es war ein Anstehen auf den Tod. Wenn sie hier nun näher kamen, dann sahen sie, was drin vor sich ging. Ungefähr hier unten mussten sie ihre Schmucksachen und ihre Koffer abgeben. Ein Stückchen weiter mussten sie sich ausziehen, durften nur Hemd und Schlüpfer anbehalten. Das waren alles nur Frauen und kleine Kinder, so Zweijährige.»

Die Gleichgültigkeit, mit der dieser Wehrmachtssoldat von dem Massaker berichtet, bei dem weder Partisanen noch andere Soldaten - also potentiell gefährliche Gegner - sondern unschuldige, wehrlose Frauen und Kinder abgeschlachtet wurden, lässt einen genau gleich erschauern wie viele andere Zitate aus dem in der nächsten Woche erscheinenden Buch «Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben» der Historiker Sönke Neitzel und Harald Welzer.

Der Schrecken, der von diesen Zitaten und dem zum Teil sogar freimütig zur Schau getragenen Vergnügen an Töten, Gewalt und Willkür jedem normal denkenden Menschen in die Knochen fahren müsste, führt sehr schnell zu der Folgerung, dass es sich hier um ausserordentlich schreckliche Menschen handeln musste, um Monster in Uniform.

Doch das waren sie nicht. Die meisten dieser Soldaten waren vor ihrem Militärdienst und nach ihrer Kriegsgefangenschaft tadellose Bürger, liebevolle Väter, verantwortungsvolle Mitglieder, ja Stützen der Gesellschaft...

Sind wir also alle so? Potentiell? Und wenn ja, wie könnte es soweit kommen? Sind diese Fragen überhaupt relevant? Die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht - nicht der SS, wohlgemerkt - sollen hier auch nur als Modell dienen, die ehrlichen, gegenüber Kameraden geäusserten Aussagen der Landser als Massstab einer verdrehten Wahrnehmung dessen, was als normal und akzeptabel galt.

Die meisten Verbrechen wurden an der Ostfront begangen, an Juden und an Slawen, Volksgruppen, die in Deutschland während der sechs Jahre Naziherrschaft vor dem Kriegsbeginn vom Hitlerregime systematisch entmenschlicht und diskriminiert wurden. Es wurde unter all denen, die nicht Widerstand leisteten, in die innere Emigration gingen oder gar selbst verfolgt wurden ein Teil der Normalität, dass «der Jude» und «der Slawe» Untermenschen zu sein hatten, «der Arier» hingegen Übermensch.

Das tönt für uns heute vielleicht absurd, aber die verdrehte Normalität muss ja nicht gerade so ungeheuerlich sein, wie der Vernichtungskrieg eines verrückten Diktators, der die Wahrnehmung der Realität des grossen Teil eines Volkes verhängnisvoll verschieben konnte.

Gesellschaftliche Konventionen und Normen werden durch einen Konsens über von als Autoritäten betrachteten Leitfiguren - heute gerne als «Opinion-Leaders» bezeichnet - verbreiteten Ideen, angereichert mit kulturhistorischen, religiösen und sogar stammesgeschichtlichen Verhaltensweisen als Norm definiert. Immer wieder erweist sich dabei die unumstössliche, akzeptierte Norm einer gewissen Epoche in der Retrospektive als von einer Mehrheit mit Überzeugung beschrittener Irrweg, der vom Lächerlichen bis ins Barbarische reicht. Ob es sich nun um die Hexen-, Hugenotten- oder Judenverfolgung handelt.

Die besonnenen, gemässigten Stimmen hingegen tönen uns dabei aus diesen schrecklichen Zeiten wie süsse Melodien in einer Kakophonie des Wahnsinns entgegen.

Es ist Wahljahr in der Schweiz (und anderswo) und die Visionen und Angstbilder verschiedenster Zukünfte werden uns allen wieder mal um die Ohren gehauen. Könnte es vielleicht sein, dass es die lautesten, bestimmtesten und überzeugtesten Stimmen sind, diejenigen, die keine Zweifel an der Richtigkeit des von ihnen geforderten Tuns akzeptieren, jene sind, die versuchen, eine kompromisslose Normalität zu formen, die uns in Wahrheit auf einen Pfad führen, der dereinst als absurder Irrweg betrachtet wird?

Einfach so als Gedanke. Denn wenn sechs Jahre ideologischer Wahnsinn reichten, das, was im zweiten Abschnitt geschrieben steht, als Normalität erscheinen zu lassen, wie viel einfacher muss es denn sein, auch manche falschen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Irrungen als vernünftig erscheinen zu lassen, wenn sie uns nur lange genug vorgekaut werden?

(Patrik Etschmayer/news.ch)


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