Wider den Geschlechtszwang Donnerstag, 15. November 2012 / 14:44 Uhr
«Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib» (1. Mose 1, 25). Im 21. Jahrhundert haben sich Schweizerinnen und Schweizer von diesem christlichen Geschlechts-Mythos gelöst - sie sind nun auch bereit, seine Wirkungsgeschichte im Recht und Praxis zu beenden.
 Mythos, von dem wir uns endlich gelöst haben: Adam und Eva (Gemälde von Cranach)
Bei den Inuit, den Menschen, die im hohen Norden Kanadas leben, wurde traditionell das Geschlecht weniger eng gesehen: Zwar waren die Männer in der Regel Jäger und die Frauen übernahmen die Kinderbetreuung und die Lebensmittelverarbeitung etc. Aber es gab auch Frauen, die auf die Jagd gingen und Männer, die zuhause blieben. Von letzteren wurde erwartet, dass sie sich an den häuslichen Arbeiten beteiligten. Logischerweise trugen sie dabei auch keine Jägerbekleidung, sondern die gleiche wie die Frauen, nämlich Kleidung, die sich für die Tätigkeit im und um das Haus eignete. Es gab also Arbeitsrollen, aber keine fixen Geschlechterrollen. Dies gab jenen Menschen, die sich keinem oder dem anderen biologischen Geschlecht zugehörig fühlten, die Freiheit, sich gemäss ihrer Neigung für die eine oder die andere Arbeitsrolle zu entscheiden und damit voll anerkanntes Mitglied der Gruppe zu sein.
In der christlich geprägten Schweiz treibt die rigide Geschlechtszuweisung durch Gesellschaft und Staat heute noch Menschen, die sich nicht in dieser Beziehung nicht einordnen lassen, in die Verzweiflung und nicht selten in den Tod. Mediziner betrachten es heute noch als ihre Aufgabe, Neugeborene mit unklaren Geschlechtsmerkmalen zu operieren und ihnen damit ein eindeutiges Geschlecht zuzuweisen, nicht aus medizinischen Gründen, sondern weil sonst die Eltern und das Kind selber leiden würden.
Davon rät die Nationale Ethikkommission NEK nun klar ab: Sie hat sich in ihrer Stellungnahme Nr. 20/201 einstimmig dafür ausgesprochen, «dass das Leid, welches manche Menschen mit einer Geschlechtsvariante aufgrund der früheren medizinischen Praxis erfahren mussten, gesellschaftlich anerkannt werden sollte. Als Grundsatz für den Umgang mit Geschlechtsvarianten empfiehlt die Kommission, alle nicht bagatellhaften, geschlechtsbestimmenden Behandlungsentscheide, die irreversible Folgen haben, aber aufschiebbar sind, erst dann zu treffen, wenn die zu behandelnde Person selbst darüber entscheiden kann. Eine psychosoziale Indikation allein reicht nach Meinung der NEK zur Rechtfertigung eines solchen Eingriffes nicht aus.» Zudem sollten «um allfällige negative oder irreführende Konnotationen, die mit dem Ausdruck 'Intersexualität' verbunden sind, zu vermeiden», nach ihrer Meinung alltagssprachlich künftig der Ausdruck 'Varianten der Geschlechtsentwicklung' bzw. 'Geschlechtsvariante' verwendet werden.
Ein erster Schritt, aber nicht genug. Warum will die Gesellschaft und der Staat überhaupt wissen, wie die Genitalien eines Menschen beschaffen sind? Natürlich, um ihn aufgrund dieser Tatsache unterschiedlich zu behandeln. Aber solche Ungleichbehandlung sollte gemäss unserer Verfassung abgeschafft werden: Niemand soll aufgrund eines klaren oder unklaren Geschlechts diskriminiert werden.
Ziel muss es also sein, auf das Geschlecht ganz zu verzichten. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es ist höchste Zeit, in einem ersten Schritt den amtlichen Geschlechtswechsel ohne Chirurgenmesser anzuerkennen - wie z. B. in Grossbritannien, wo zwei Jahre «Lebenspraxis» im neuen Geschlecht zur Anerkennung ausreichen - und für Intersexuelle einen Bezeichnung zu schaffen - wie z. B. in Australien oder Indien, wo es für Menschen mit uneindeutigem Geschlecht den Eintrag «anderes» gibt.
Erste ermutigende Zeichen gibt es. Transgender-network.ch schreibt: «Zum Glück sehen das auch in der Schweiz immer mehr Jurist/-innen ein. So hat das Obergericht Zürich 2011 geurteilt, dass keine geschlechtsangleichenden Operationen verlangt werden dürfen für die Änderung des amtlichen Geschlechts. Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland folgte dem in einem Entscheid im Juni dieses Jahres. Auch das Eidgenössische Amt für Zivilstandswesen teilt diese Meinung. Noch einen Schritt weiter als Zürich gingen 2012 das erstinstanzliche Zivilgericht in Porrentruy und das Regionalgericht Bern-Mittelland: sie verlangten weder Operationen noch einen anderen Nachweis der Fortpflanzungsunfähigkeit. Daran sollten sich in Zukunft auch die anderen Gerichte orientieren.»
Jawohl.
Und darüber hinaus muss künftig auch die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare anerkannt werden: 86.3 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind für dafür (Isopublic Umfrage «Gleichgeschlechtliche Elternschaft» vom 12.6.2010).
Schweizerinnen und Schweizer haben sich also vom christlichen Geschlechts-Mythos gelöst - sie sind nun auch bereit, seine Wirkungsgeschichte im Recht und Praxis zu beenden.
(Reta Caspar/news.ch)
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